„Ich bin lieber ganz als gut.“

Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung prägte die Aussage „Ich bin lieber ganz als gut.“ – ein Satz, der tief in die menschliche Psyche blicken lässt und uns zu einem differenzierten Umgang mit uns selbst anregt. Jung spricht von einem weit verbreiteten, aber schädlichen Bedürfnis, nur die „guten“ Seiten von uns zu zeigen und die weniger akzeptierten Teile zu verstecken. Doch diese Jagd nach Perfektion und Anerkennung kann uns auf lange Sicht eher belasten, als uns zu befreien.

Die Schattenseite unserer Persönlichkeit

Die „guten“ und „schlechten“ Eigenschaften eines Menschen, wie oft neigen wir dazu, sie zu kategorisieren? Diese Einteilung führt dazu, dass wir in erster Linie versuchen, unsere „schlechten“ Seiten zu verdrängen, ja, sie beinahe zu leugnen. Doch was sind diese „schlechten“ Seiten eigentlich? Sie sind oft nicht mehr als Übertreibungen unserer Stärken: Der Hang zur Rechthaberei, Sturheit, Eitelkeit, Egoismus oder auch Rachgier. Diese „Schattenanteile“ lagern sich tief in unserem Inneren ab, meist in einem dunklen Keller, an den wir nur ungern denken. Doch indem wir diese Teile von uns aus Angst und Scham abdrängen, machen wir uns unnötig unglücklich und leben in ständiger Furcht, entdeckt und abgelehnt zu werden.

Jung fordert uns auf, diese Teile zu akzeptieren. Die wahre Freiheit liegt nicht darin, nur die „guten“ Seiten von uns zu zeigen und die dunklen Anteile zu verbergen. Es geht nicht darum, sie zu verleugnen, sondern darum, sie in unser gesamtes Wesen zu integrieren. Unsere Unvollkommenheit und unsere Schwächen gehören zu uns, und sie sind nur dann problematisch, wenn wir sie verdrängen oder ignorieren. Wenn wir uns diesen „dunklen“ Teilen stellen, können wir ein ganzheitlicheres und erfüllteres Leben führen.

Die falsche Vorstellung von Perfektion

Unsere Gesellschaft hat eine sehr klare Vorstellung davon, was „gut“ ist, erfolgreich, leistungsfähig, schön und klug. Wer nicht in dieses Bild passt, wird oft als „minderwertig“ angesehen. Doch dieser Glaube an die Notwendigkeit, „gut“ zu sein, führt zu einem endlosen Streben nach Anerkennung und einem ständigen Verstecken unserer „schlechten“ Seiten. Wir denken, wir müssen unsere Schwächen ausmerzen, um erfolgreich zu sein, oder gar um gemocht zu werden.

Jung lädt uns ein, diese Vorstellung zu hinterfragen. „Ganz sein“ bedeutet, alle Teile von uns zu akzeptieren, nicht nur die, die als „gut“ gelten. Es geht nicht darum, sich zu gehen und jede „schlechte“ Seite ungefiltert zu leben. Vielmehr geht es darum, sich selbst in seiner vollen Komplexität zu erkennen und zu akzeptieren. Die Schattenseiten sind nicht der Feind, es sind die verdrängten Anteile, die uns oft am meisten zu schaffen machen.

Der Weg zur Integration

Indem wir unsere dunklen Seiten in unsere Identität integrieren, machen wir einen entscheidenden Schritt zur Selbstakzeptanz und inneren Freiheit. Unsere Unvollkommenheiten verlieren ihren Schrecken, wenn wir lernen, sie zu umarmen. Sie machen uns zu den einzigartigen Menschen, die wir sind. Indem wir unseren „Schatten“ akzeptieren, sind wir weniger anfällig für den Druck, perfekt sein zu müssen. Wir kommen zu einem Zustand, in dem wir uns nicht mehr gezwungen fühlen, vor anderen eine Fassade zu wahren. Stattdessen leben wir authentisch und können unser wahres Selbst zeigen, ohne Angst vor Entlarvung oder Ablehnung.

Das bedeutet nicht, dass wir uns nicht verbessern können. Aber es bedeutet, dass wir uns selbst mit all unseren Facetten akzeptieren – mit unseren „schlechten“ ebenso wie mit unseren „guten“ Seiten. Nur so können wir ein ganzes Leben führen, das von Frieden und Zufriedenheit geprägt ist. Wenn wir uns mit unserem Schatten versöhnen, wird unser Licht heller und unser Leben leichter.

Jung hat uns mit dieser Weisheit eine der kraftvollsten Einsichten hinterlassen: Wir müssen nicht perfekt sein, um vollkommen zu leben. Vielmehr sollten wir uns darauf konzentrieren, ganz zu sein, mit all unseren Stärken und Schwächen. So werden wir die beste Version unserer selbst.

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Es sagt die alte Heilerin der Seele:

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